31 Thesen zur Modell-Theorie und zu den Aufgaben der Philosophie
I. Modelle
1. Definition
Ein Modell ist ein funktionales Konstrukt aus miteinander verknüpften Elementen. Sowohl die Elemente wie die Verknüpfungen basieren auf einer oder mehreren Grundannahmen, sogenannten Axiomen, Regeln oder Glaubenssätzen, die nicht stringent beweisbar sind und deshalb keinen absoluten Wahrheitsanspruch haben.
2. Funktion
Die Funktion von Modellen ist die Lösung von Aufgaben. Das Modell ermöglicht oder erleichtert die Lösung einer Aufgabe.
3. Art der Aufgaben
Die mit einem Modell lösbare Aufgabe kann in reiner oder in gemischter Form praktischer, theoretischer und/oder spielerischer Natur sein.
4. Ober- und Unterbegriffe
Unter dem Oberbegriff 'Modell' unterscheiden wir theoretische, emotionale und physische Modelle
a) Theoretische Modelle sind rational und/oder intuitiv verknüpfte Gedankenkonglomerate
b) Emotionale Modelle sind Matrizes von Gefühls-Interkonnektionen
c) Physische Modelle sind materiale Abbilder anderer, in der Regel komplexerer Gebilde, die selbst nicht materialer Natur sein müssen.
5. Zweckgerichtetheit
Modelle unterscheiden sich primär in der Funktion, in der Aufgabenstellung. Jedes Modell dient einem Zweck, hat instrumentalen Charakter.
6. Konflikt
Konflikt zwischen Modellen entsteht erst, wenn mehrere zur Auswahl stehen, um dieselbe Aufgabe zu lösen. Dieser Konflikt verlässt genau dann die Ebene anregender Konkurrenz, wenn Absolutheits- bzw. Ausschliesslichkeitsansprüche geltend gemacht werden.
7. Verwechslung von Modell und 'Wirklichkeit'
Die grundsätzliche Problematik des menschlichen Umgangs mit Modellen ist die Verwechslung des Modells mit einer 'absolut', 'objektiv', 'wahr', 'universal gültig' vorgestellten 'Wirklichkeit'.
8. Irrelevanz absoluter 'Wirklichkeit'
Die Frage, ob und wenn ja in welcher Art es eine 'absolute' und/oder 'objektive'
und/oder 'wahre' und/oder 'universal gültige' Wirklichkeit (in der Folge
verwende ich nur noch die Formulierung 'absolut') gebe, ist sowohl auf den äusserlich-physischen
wie auf den innerlich-metaphysischen Ebenen für das Lösen von Aufgaben
irrelevant. Auch die Vorstellung, die materielle Welt sei so etwas wie die 'Wirklichkeit',
ist nur ein Modell, das auf nicht beweisbaren Annahmen beruht, deren Verifizierung
so aussichtslos und irrelevant ist wie bei allen anderen Modellen auch.
9. Widersprüchlichkeit 'absoluter Modelle'?
Jedes Bemühen um das Finden sogenannt 'absoluter' Modelle ist nicht nur
unnötig, sondern generiert auch zerstörerische Konflikte. Es ist im
weitesten Sinne unfunktional, da alle Energie, die in Vergebliches und Zerstörerisches
gesteckt wird, nicht in die Lösung der Aufgaben investiert wird. Das 'absolute'
Modell ist ein Widerspruch in sich selbst, sprengt den Modell-Begriff. Ich nenne
es in der Folge 'unechtes Modell'.
10. Konstruktive Konkurrenz echter Modelle
Das Bemühen um das Finden einer Vielzahl von echten Modellen auch für
das Lösen derselben Aufgabe generiert demgegenüber konstruktive Konkurrenz,
die die Funktionalität - also die Aufgabenlös-Kompetenz - der Modelle
erhöht.
11. Plausibilität
Axiome und ihre darauf fussenden Modelle sind dann plausibel, wenn sie ihre
Funktion erfüllen, also die gestellte Aufgabe lösen helfen und die
ständig zu optimierenden Kriterien nach bestem Wissen und Gewissen des
Anwenders zur Zeit der Selektion am besten erfüllen.
12. Mögliche Kriterien für die Evaluation geeigneter Modelle
a) Funktionalität: Welches Modell oder welche Modell-Kombination leistet die qualitativ und quantitativ wertvollste, effizienteste, mit den anderen Kriterien best-kompatible Hilfe bei der Lösung der gestellten Aufgabe?
b) 'Gemässheit': Dem Modell ist der Vorzug zu geben, das dem Wesen und dem Entwicklungsstand des/der von einem Modell Betroffenen am besten entspricht, dem 'entwicklungsförderlichsten' Modell.
c) Achtsamkeit: Achtsamkeit ist eine Haltung und meint, sich bewusst, wach, offen, verantwortlich, präsent, konzentriert, liebevoll, respektvoll,angstfrei, nicht vorurteilend einer äusseren oder inneren Manifestation zuzuwenden. Dem Modell ist der Vorzug zu geben, das neben der Erfüllung der anderen Kriterien diesen Anforderungen der Achtsamkeit am besten entspricht.
d) Kompatibilität: Kriterium für die Evaluation ist einerseits die Kompatibilität verschiedener Modelle untereinander zur Lösung komplexer Aufgaben, andererseits die Kompatibilität und Flexibilität von Modell-Komplexen bei grundverschiedenen, ja sogar widersprüchlichen Aufgaben.
13. Kriterien für die Evaluation der zu lösenden Aufgaben
Nicht alle denkbaren Aufgaben müssen gelöst werden. Für die Selektion
der unerlässlichen Aufgaben können wir die obigen Kriterien für
die Evaluation geeigneter Modelle in adaptierter Form beiziehen. So wie jedes
Modell zur Lösung einer Aufgabe beitragen soll, hat jede Aufgabe ein bestimmtes
Ziel. Wir können nun auch die Ziele nach ihrer Funktionalität und
Gemässheit für die Entwicklung der von der Zielselektion betroffenen
Entität, nach der Haltung der Achtsamkeit, die ein Ziel zulässt und
nach der Kompatibilität mit anderen, selektionierten Zielen beurteilen.
14. Die Modell-Theorie als theoretisches Modell
Die hier vorgestellte Modell-Theorie ist selbst ein theoretisches Modell und
hat die generelle Aufgabe einer Orientierungshilfe im friedlichen Nebeneinander
echter Modelle. Im speziellen will ich in diesem Text mit der Modell-Theorie
einen Beitrag zur Lösung der Frage nach der Aufgabe der Philosophie leisten.
15. Das Weltbild hinter der Modell-Theorie, in 5 Thesen zusammengefasst
a) Abgetrenntheit in Zeit und
Raum als Grunderfahrung
Sinneswahrnehmung, Empirie, naturwissenschaftliche Forschung und wirkursächliches
Denken bestätigen die den meisten untersuchbaren, befragbaren und beobachtbaren
Entitäten gemeinsame Vorstellung, dass wir uns in der Physis als von anderen
Entitäten abgetrennte Entitäten vorfinden in Raum und Zeit.
b) Abgetrenntheit in Zeit und
Raum als Voraussetzung für Erkenntnis
Das Bewusstsein der Separiertheit, der Begrenztheit dessen, was wir 'Ich' nennen,
ist Voraussetzung für die Wahrnehmung der andern Entitäten, der Welt.
Diesen Vorgang nennen wir 'Erkenntnis'. Er braucht ein erkennendes Subjekt,
ein von ihm getrenntes Objekt (bzw. ein anderes Subjekt; auch die Benennung
'Subjekt' und 'Objekt' ist eine standpunktabhängige, subjektive) , dazwischen
einen Abstand, einen Spalt, der die Unterschiedenheit erfahrbar macht - damit
ist Raum gegeben. Der Vorgang der Beobachtung, der Wahrnehmung, der Einordnung
dieser Wahrnehmung, der Begriffsbildung etc. braucht Zeit, wobei rationale Prozesse
mehr Zeit brauchen als intuitive. Damit sind die drei notwendigen Parameter
für die Erkenntnis innerhalb der Physis gegeben: Subjekt, Raum, Zeit. Subjekt
ist ein abgetrenntes, sich als solches wahrnehmendes 'Ich' oder 'Ego', das zu
irgendeinem Zeitpunkt von irgendeinem Standpunkt im Raum aus wahr-nimmt
und das, was es als wahr für sich, zu sich genommen hat, als seine Erkenntnis
bezeichnet. Diesen erkenntnisfähigen Seins-Modus nenne ich in der Folge
'Subjekt-Objekt-Spaltung'.
c) Widersprüchlichkeit des
Begriffs 'absolute Erkenntnis'
Im Zustand der Subjekt-Objekt-Spaltung, der Abgegrenztheit als Individuum mit
beschränktem Bewusstsein ist jegliches Behaupten, im Besitze absoluter
und damit universal gültiger Erkenntnis zu sein, widersprüchlich,
inadäquat, überheblich, vergeblich, hinderlich. 'Absolute Erkenntnis'
ist ein Widerspruch in sich selbst, da Erkenntnis ja gerade erst möglich
wird, wenn ein Spalt, also Raum, also Trennung, also Relationalität, also
Relativität zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, aber auch
zwischen den erkennenden Subjekten und ihren Standpunkten besteht und Zeit für
den Erkenntnisprozess zur Verfügung steht. 'Absolut' meint aber gerade
'losgelöst von Bedingtheiten, unabhängig von Relationen und Hilfsachsen
wie Subjekt, Zeit und Raum'.
d) Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung
Aus c) folgt logisch, dass nur jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung, der Abgegrenztheit
als Individuum in Zeit und Raum und der Beschränktheit des Bewusstseins
überhaupt so etwas wie 'absolute Erkenntnis' im Sinne von komplexer, ganzheitlicher,
alle Standpunkte umfassender, nicht mehr relationaler Erkenntnis vorstellbar
ist. Wobei der Vorgang dann nicht mehr adäquat mit dem Begriff 'Erkenntnis'
wiedergegeben werden kann. Will jemand zu dieser Art von 'transmutierter Erkenntnis'
oder Weltschau vordringen, muss er also seine Abgetrenntheit als Subjekt bzw.
Ego, die Beschränktheit seines Bewusstseinsausschnitts und die Fesseln
von Zeit und Raum überwinden. Diese Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung
ist zumindest in Ansätzen auch in unserem Seins-Modus möglich. Viele
Heilslehren, Mythen, Rituale, Legenden, Märchen versuchten in mannigfachen
Bildern und Modellen diesen anderen Seins-Modus wie den Weg zu ihm zu umschreiben
und erfahrbar zu machen.
e) Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung
ist nicht Voraussetzung für das Lösen von Aufgaben
Für das Lösen von Aufgaben innerhalb der physischen, polaren Welt
der Subjekt-Objekt-Spaltung ist diese 'transmutierter Erkenntnis' oder 'Weltschau'
nicht erforderlich. Es reicht für den fruchtbaren Umgang mit Modellen und
für die Lösung von Aufgaben, die Modellhaftigkeit des Subjekt-Objekt-Spaltungs-Modus
zu erkennen und um die Möglichkeit zu wissen, dass ein Modus jenseits dieser
Spaltung vorstellbar ist.
16. Axiome dieser Weltbild-Thesen
Die Annahmen, Axiome, die nicht deduzierbaren Glaubenssätze, die den unter
15 gemachten Weltbild-Thesen zugrundeliegen, sind die folgenden:
a) Subjekt-Objekt-Spaltung ist
Fiktion
Die Erkenntnis ermöglichende Subjekt-Objekt-Spaltung ist eine Fiktion,
eine virtuelle Welt, einem Computerprogramm oder einem grossangelegten Spiel,
einem Manöver oder auch einem Traum vergleichbar.
b) Sinnvolle Fiktion
Die Fiktion ist eine sinnvolle. Aufgabe der in der Fiktion Behafteten, der 'User
des Programms', ist es, die Fiktion maximal zu nutzen, also die durch die Fiktion
ermöglichte Erkenntnis zu maximieren.
c) Erkenntnis ihrer Fiktionalität
ist Voraussetzung für die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung
Die innerhalb der Fiktion mögliche Erkenntnis gipfelt in der Erkenntnis
ihrer Fiktionalität, die den Weg öffnet, die Fiktion zu verlassen,
über das 'Programm' hinauszuwachsen, das Manöverziel zu erreichen,
aus dem Traum aufzuwachen.
d) Achtsamkeit für alle und
alles
Es gibt nichts, weder in uns noch ausserhalb von uns, das nicht unsere Achtsamkeit
verdiente.
Zur Plausibilisierung dieser Annahmen kann ich auf individuelles Erleben und Erfahren, auf die Möglichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung, auf empirische Untersuchungen, naturwissenschaftliche Experimente und auf die gesamte Wissenschafts- und Geistesgeschichte hinweisen, aber ein stringenter Beweis ist nicht möglich - und für die gestellte Aufgabe auch nicht nötig. Wichtig ist nicht, keine Axiome zu benötigen, sondern sie als solche zu erkennen und zu deklarieren.
II. Theoretische Modelle
17. Jeder Gedanke ist ein theoretisches Modell
Jeder Gedanke, vom intuitiven Gedankenblitz über die einfache Aussage bis
zum Gedankenkonglomerat und zur komplexen Theorie, ist ein theoretisches Modell
und basiert auf einer oder mehreren Annahmen.
18. Komplexe Modelle und ihre Überzeugungskraft
Aus einem Set von Annahmen und ihren darauf fussenden theoretischen Modellen
können je nach Mass ihrer bewusst erkannten und geschaffenen Verknüpfung
komplexe Modelle wie Wertehierarchien, Wertsysteme, Weltbilder und Welterklärungsmodelle
generiert werden. Je nach Stringenz der Verknüpfungen und nach Erfahrbarkeit
dieser Stringenz auch auf intuitiver, emotionaler und körperlicher Ebene
überzeugt ein Wertsystem, ein Welterklärungsmodell mehr oder weniger
Anwender.
19. Funktionalität und Sinn-Offerte
Bei den naturwissenschaftlichen Modellen ist das Kriterium für den Erfolg
eines Modells seine Funktionalität, die zu relevanten Prognosen und zur
Optimierung der Beherrschung der Natur beiträgt. Bei den geisteswissenschaftlichen
Modellen ist es die Qualität der Deutung, der Sinn-Offerte, die zur Überzeugungskraft
beiträgt.
20. Der Wille zum Sinn
Ein geisteswissenschaftliches Modell mit Sinn-Offerte überzeugt grundsätzlich
leichter als ein Modell, das keinen Sinn postuliert. Grund dafür ist der
Wille zum Sinn, der einem menschlichen Grundbedürfnis entspricht wie der
Wille zum Leben, zur Macht, zur Lust.
21. Formen der Kommunizierbarkeit von Modellen
Die Form, in die ein einfacher oder komplexer Gedanke gekleidet ist, ist sekundär.
Die formale Einkleidung eines theoretischen Modells ist reines Kommunikationsvehikel
und dient nur dem Transport. Unter dem Aspekt der Kommunizierbarkeit gibt es
je nach Kontext geeignetere und weniger geeignete Formen, die ihrerseits auch
wieder Modell-Charakter haben.
22. Sprache im weiteren Sinne
Sprache im weiteren Sinne meint die ganze Palette von Gedanken-Transport-Modellen
und umfasst Unterbegriffe wie Körpersprache (mit optischen und taktilen
Elementen), Musiksprache, Bildersprache, Duftsprache, Schmecksprache, Energiesprache,
aber auch die Sprache im engeren Sinne, also die Sprache mit gesprochenen und
geschriebenen mehr oder weniger abstrakten, kombinierbaren Lautzeichen für
den schriftlichen oder mündlichen Gedanken-Transport.
23. Sprache im engeren Sinne
Die Sprache im engeren Sinne ist ein mögliches Transportmittel und eignet
sich vor allem für den Transport einfacher, pragmatischer und/oder rationaler
Gedanken und Modelle. Das Reduzieren der Gedankenübertragungsmittel auf
die Sprache im engeren Sinne, das Festkrallen an rein sprachlichen Formen und
innerhalb der sprachlichen Formen an bestimmte syntaktische Typen ist eine wenig
sinnvolle Einschränkung. Selbstverständlich steht es jedermann frei,
sich selbst solche Beschränkungen der Gedankenübertragung aufzuerlegen
und seine Modell-Auswahl beliebig zu reduzieren. Unzulässig wird diese
Einschränkung erst, wenn sie mit dem Anspruch 'universaler Gültigkeit'
auftritt.
24. Dogmatisierung und Erstarrung
Bei den theoretischen Modellen zeigt sich die Problematik der Verwechslung von
Modell und 'Wirklichkeit' darin, dass Axiome plötzlich zu absoluten Wahrheiten
umfunktioniert werden und dass der Fokus in der Folge von der Aufgabenlösungsfunktion
auf die Wahrheitsbehauptung übergeht. Dieser Prozess zeigt sich in der
Geschichte immer wieder bei der Erstarrung und Dogmatisierung religiöser
und wissenschaftlicher Theorien.
25. Wahr ist, was die Macht für wahr erklärt
Immer wieder gelang es Macht-Ausübern, theoretische Modelle oder ganze
Modell-Komplexe nicht nur für plausibler als andere, sondern für absolut,
universal gültig zu erklären und alle, die diesen Absolutheitsanspruch
in Frage stellten, je nach Reichweite ihrer Macht entweder umzubringen, mundtot
zu machen, politisch, wirtschaftlich und/oder gesellschaftlich zu marginalisieren
und zu diskreditieren. Im Mittelalter war es vor allem der katholische Kirchenstaat,
der über entsprechende Macht verfügte, seit dem 17. Jahrhundert ist
es mehr und mehr die zum Handlanger von Wirtschaft und Politik degenerierende
'Wissenschaft'.
26. Von der Polykausalität zur Monokausalität
Die Geisteswissenschaften, die bis ins 17. Jahrhundert theoretische Modelle
entwickelten, die versuchten, die Aufgabe der Deutung der manifesten Welt, der
Sinn-Findung zu lösen und dazu nach der aritotelischen Zweckursache (causa
finalis) fragten, gaben diesen Anspruch sukzessive ab zugunsten der naturwissenschaftlichen
Modelle, die sich aufgrund ihrer Aufgabenstellung prioritär mit der Wirkursache
(causa efficiens) beschäftigen und Welt nicht deuten, sondern ihre materiellen
Zusammenhänge beschreiben.
27. Die unechte Konkurrenz von Natur- und Geisteswissenschaften
Dieses Zurückweichen der Geisteswissenschaften - insbesondere der Philosophie
- ist insofern schwer nachvollziehbar, als es von den erstarkenden Naturwissenschaften
gar nie gefordert wurde, da sich die beiden Aufgaben in keiner Weise widersprechen
oder gar ausschliessen. Wer physikalische, chemische, biologische Abläufe
und Zusammenhänge erkennen will, um zukünftiges Geschehen prognostizieren
und besser beherrschen zu können, tut dies mit Vorteil in naturwissenschaftlichen
Modellen, die wirkursächliche Kausalketten verknüpfen. Wer demgegenüber
den Sinn, die Bedeutung, die Finalität seiner selbst, der vorgefundenen
Welt, des Lebens generell erkennen, Einblick in archetypische Seins-Strukturen
gewinnen will, um seinen Platz, seine Aufgabe zu finden, Orientierung für
seine Entwicklung zu erlangen, wer den Sinn aller von den naturwissenschaftlichen
Modellen beschriebenen Manifestationen sucht, wer glücklich leben und einverständlich
sterben will, der tut dies mit Vorteil mit geisteswissenschaftlichen Modellen,
die Zweckursachen verknüpfen und zu komplexen Sinn-Strukturen verweben
helfen.
28. Das Kind mit dem Bade ausschütten
Ein historischer Grund für diesen Krebsgang der Geisteswissenschaften kann
im Bemühen liegen, nach Jahrhunderten der Vorherrschaft der Theologie extrem
Gegensteuer zu geben. Denn die Theologie bemühte sich zwar durchaus um
Zweckursachen, bündelte die gefundenen Deutungen der Welt nicht zu Modellen
mit Sinn-Offerten, sondern in aller Regel zu 'Wahrheiten' mit Absolutheitsanspruch,
die sie 'ex cathedra' verkündete und an deren Bezweifelung sie Sanktionen
knüpfte, die sie während langer Zeit aufgrund ihrer Macht auch durchsetzen
konnte. Wie so oft führte diese masslose Übertreibung zu einer ebenfalls
masslosen Gegenreaktion, die nun aber bereits mehrere Jahrhunderte andauert
und statt des völlig zu Recht bekämpften Absolutheitsanspruchs und
des Machtmissbrauchs der Kirche die Sinnsuche, das Bemühen um die Zweckursache
über Bord warf. Ironie der Geschichte ist, dass sich Absolutheitsanspruch
und Machtmissbrauch längst wieder durch die Hintertür hereingeschlichen
haben und heute mit ähnlicher Skrupellosigkeit und Arroganz von der 'aufgeklärten'
Wissenschaft eingesetzt werden, die jeden, der sich um Sinnsuche bemüht,
als lächerlich-naiven, im Mittelalter steckengebliebenen anachronistisch-rückwärtsgewandten,
nicht ernstzunehmenden Sektierer diskreditieren oder gar mitleidig lächelnd
ins Lager schwärmerischer New-Age- und Eso-Bewegter weisen.
29. Das Ungleichgewicht an Modell-Angeboten
Der Mensch hatte und hat aber ein grosses Bedürfnis nach Antworten in beiden
Bereichen (siehe 20.). Zur Zeit herrscht ein Ungleichgewicht an Modell-Angeboten.
Einer quantitativ und qualitativ beeindruckenden Fülle von Modellen mit
Antworten auf die naturwissenschaftlichen Fragen stehen nur sehr wenige, von
der universitären Schul-Philosophie stark marginalisierte oder gar verunglimpfte
Anzahl von Modellen mit Antworten auf die Sinnfragen, auf die Fragen nach den
Zweckursachen gegenüber. Es ist an der Zeit, laut über die Frage nach
den Aufgaben der Geisteswissenschaften im allgemeinen und der Philosophie im
speziellen nachzudenken.
III. Aufgaben der Philosophie
30. Postulierte Aufgaben der Philosophie im Rahmen der Modell-Theorie
a) Konzeptions-, Management- und
Koordinationsaufgaben: Modelltheorien
Die Philosophie soll Modell-Theorien entwickeln, laufend anpassen und optimieren,
die der Systematisierung, also der Verknüpfung und Funktionszuweisung der
Modelle anderer Seins-, Tuns- und Wissensbereiche dienen.
b) Evaluationsaufgaben: Selektions-Theorien
Die Philosophie soll Modell-Evaluationskriterien entwickeln, laufend anpassen
und optimieren, die die Anwender von Modellen befähigen, Schnittstellen,
Inkompatibilitäten und relevante Widersprüche der Modelle zu erkennen
und das jeweils aufgaben-, kontext- und kriterienkonforme Modell auszuwählen.
c) Entwicklungsaufgaben: Sinndeutungs-Modelle
Die Philosophie soll Modelle entwickeln, die zur Lösung der Aufgaben beitragen,
die die Zweckursachen betreffen. Deutungsmodelle, die dem Anwender helfen, den
Sinn der Welt in allen ihren Manifestationen, den Sinn seines eigenen Lebens,
des Lebens anderer in seinem Verantwortungs- und Wirkungsbereich, aber auch
des Lebens als Phänomen zu decodieren.
d) Strukturierungsaufgaben: Funktionale
Matrizes
Archetypische Modell-Strukturen herauszuarbeiten, die matrix-artig vom Modell-Anwender
individuell ausgestaltet werden können für die Lösung entwicklungsbezogener
Aufgaben (z.B. Pubertät, Midlife-Crisis, Sterben)
31. Monthy Python: die (nicht) fussballspielenden Philosophen
Philosophie, die nur Fragen stellt und keine Aufgaben löst, ist Ergotherapie
für nutzlose Betuchte. Es geht nicht um pfannenfertige Antworten, schon
gar nicht um angeblich 'absolute Wahrheiten'. Aber es geht sehr wohl um das
Übernehmen von Verantwortung als Geisteswissenschaft und damit um das Lösen
von Aufgaben. Ein Gemeinwesen hält sich auf die Dauer keine Mitglieder,
die keinen Beitrag zur Lösung anstehender Aufgaben leisten, und schon gar
nicht solche, die den Aufgabenlösern den Sinn ihres Tuns absprechen und
sie demotivieren. Die Aufgabe der Sinn-Suche, Sinn-Deutung und Sinn-Stiftung
jenseits der vordergründigen Zwecke von Geld, Macht, Fortpflanzung und
Spass wäre eine grossartige, herausfordernde, edle und befriedigende. Wenn
sie aus mehrhundertjähriger historischer Traumatisierung nicht wahrgenommen
wird, nehmen sich andere, in der Regel weniger kompetente Akteure auf dem Meinungsmarkt
dieses brach liegenden Wirtschaftszweigs an. Das tun sie längst. Mit nicht
übersehbaren Resultaten. Nur repetiert sich dabei die Geschichte. Denn
auch heutige Sinn-Anbieter ausserhalb der Universitäten kommen in aller
Regel mit Absolutheitsanspruch daher und kennen wenig Skrupel, vorhandene Macht
nachhaltig einzusetzen. - Die Frage ist nur, ob wir das genau so wollen. Man
kann natürlich das Bedürfnis nach Sinn wie jedes Bedürfnis als
nicht existent qualifizieren und die Augen verschliessen - und wenn's dann zu
laut wird mit dem fundamentalistischen Geschrei kann man alle als Irre bezeichnen,
die dieses Bedürfnis äussern und natürlich auch alle, die es
unqualifiziert befriedigen. Nur: dann gibt es tatsächlich recht viel Irre.
Und da ich der irren Ansicht bin, dass das Aussen das Innen spiegelt, gehe ich
lieber von der Annahme aus, dem sei nicht so und es sei an uns, diesen wichtigen
Zweig des Meinungsmarktes mit Stil zurückzuerobern.
Ich freue mich auf konkurrenzierende
Modelle, insbesondere solche zur Ehrenrettung der heutigen Schul-Philosophie,
aber auch auf Modelle zur Verteidigung der von mir angegriffenen Sprachphilosophie
und auf Modelle zur Adelung der Existenzialisten und aller andern, die sich
- fern jeder Sinnsuche - so zufällig hineingeworfen vorkommen auf dieser
Welt. Auch Modelle, die gar keine sein wollen, sondern die mit dem Ex-Cathedra-Anspruch
absoluter Wahrheit daherkommen, machen Spass, da sie mir erlauben, auf das Pharisäertum
im wissenschaftlichen Mäntelchen hinzuweisen. - info@marpa.ch